Urteil des VerfGH NRW mit Sprengkraft

In Nordrhein-Westfalen hat der dortige Verfassungsgerichtshof kurz vor dem Weihnachtsfest ein spektakuläres Urteil gefällt. Mit 4:3 Stimmen hielt das Gericht die Abschaffung der Stichwahlen bei Bürgermeister- und Landratswahlen für unvereinbar mit der Landesverfassung. Bemerkenswert ist dabei vor allem die unorthodoxe Argumentationsweise der Richtermehrheit. Zum einen wurde das Demokratieprinzip oberhalb der Wahlrechtsgrundsätze angesiedelt (erkennbar an der Abfolge der verfassungsrechtlichen Prüfung, welche sonst regelmäßig in umgekehrter Reihenfolge stattfindet). Zum zweiten wurde dem Demokratieprinzip ein neu definiertes Kriterium hinzugefügt – nämlich die Forderung, in einer Demokratie sollten Wahlsiege mit absoluter Mehrheit zustandekommen, soweit dies nur irgendwie möglich ist. Zum dritten wurden die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Prüfung wahlrechtlicher Änderungen (welche ja immer auch eine Prognose über die zukünftige Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse beinhaltet) verschärft.

Dieses Vorgehen liegt teils quer zu den gängigen verfassungsrechtlichen Routinen, hat aber bei genauer Betrachtung einiges für sich. Trotzdem bleibt unverständlich, warum sich die Richter anscheinend überhaupt nicht mit der Integrierten Stichwahl auseinandergesetzt haben und somit jetzt den Vorwurf hinnehmen müssen, sie hätten dem Vorteil eines höheren Stimmenanteils bei einer Stichwahl ein größeres Gewicht beigemessen als dem Nachteil der meist niedrigeren Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang. Dieser Vorwurf birgt erhebliche Sprengkraft, denn reine Abwägungsfragen würden in die Hand des Gesetzgebers gehören und nicht in die des Gerichts.

Dadurch jedoch, dass ein Wahlverfahren existiert, welches garantiert höhere Stimmenanteile bei der Stichwahl verbinden kann mit garantiert gleichhohen Wahlbeteiligungen in beiden Wahlgängen, kann der Bereich der Abwägungen verlassen werden und eine eindeutig vorzugswürdige Stichwahlvariante ermittelt werden. Der Integrierten Stichwahl gelingt es, den im Demokratieprinzip enthaltenen Integrationsgedanken in jeder Hinsicht am besten zu realisieren – egal ob die demokratische Legitimation der Gewählten durch relative Zahlen (Stimmenanteile) oder absolute Zahlen (abgegebene Stimmen) gemessen wird.

Die Beteuerung des Gerichts (S. 53), dass nicht das Ergebnis der Prognose, sondern das Prognoseverfahren die verfassungsrechtlichen Anforderungen verfehlen würde, kann hingegen als Einladung an den Landesgesetzgeber gelesen werden, bei nächstmöglicher Gelegenheit noch einmal einen Versuch zu starten, die Stichwahlen abzuschaffen – nur dann halt auf Basis einer gewissenhafteren Prüfung. Sollte es dazu kommen, könnte die Integrierte Stichwahl dem Gericht helfen, das unvorsichtigerweise offengelassene Einfallstor wieder zu schließen, indem die Rechtfertigungshürden noch einmal deutlich höher gelegt werden (dürfen), als sie vom Verfassungsgerichtshof schon jetzt angenommen worden sind.

Werbung

Mal wieder: Dumm gelaufen!

In Niedersachsen gibt es seit kurzem wieder Stichwahlen. Rot-Grün hat sie gleich nach der Übernahme der Regierungsverantwortung wieder eingeführt – aber leider nicht in der zeitgerechten Form als Integrierte Stichwahl, sondern in Form eines getrennten Stichwahlgangs. Damit hat man sich allerlei Probleme eingehandelt, wie die erste Bewährungsprobe für die neue-alte Stichwahl im September/Oktober zeigte. Da gab es in einigen niedersächsischen Gemeinden Bürgermeisterwahlen, deren Hauptwahlgang zeitgleich mit der Bundestagswahl (also am 22.9.) stattfand. Diese Terminüberschneidung war gut für die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang, aber verheerend für die Wahlbeteiligung am Tag der Stichwahl, die es in 11 von 33 Gemeinden gab.

Dabei erhielt in 9 von 11 Fällen der Sieger in der Stichwahl weniger Stimmen als der Erstplatzierte in der Hauptwahl. Teilweise hat der erfolgreiche Kandidat sogar weniger Stimmen in der Stichwahl erhalten als der Zweitplatzierte in der Hauptwahl. Beispiel Northeim: Während der SPD-Kandidat im ersten Wahlgang noch mit 39.485 Stimmen vorne lag (gegenüber 32.039 Stimmen für den CDU-Kandidaten), reichten ihm in der Stichwahl dürftige 23.097 Stimmen für den Sieg. Ein solches Verhältnis ist schlecht für die demokratische Legitimation, selbst wenn – wie in diesem Fall – die Stichwahl an der ursprünglichen Rangfolge nichts verändert. Anders z.B. in der Gemeinde Hollenstedt: Während im Hauptwahlgang noch der CDU-Kandidat mit 2.926 Stimmen vor dem Vertreter einer Wählergruppe (2.783 Stimmen) führte, triumphierte am Ende der parteiunabhängige Bewerber – mit lediglich 2.273 Stimmen. In Ronnenberg trat ebenfalls eine solche Verschiebung auf: Obwohl der SPD-Kandidat im ersten Wahlgang 5.241 Stimmen auf sich vereinigen konnte, konnte die CDU-Kandidatin im Zuge der gesunkenen Wahlbeteiligung (45,0% gegenüber 70,1%) die Stichwahl mit 4.474 Stimmen für sich entscheiden.

Auch in der Landeshauptstadt Hannover kam es zu einer Stichwahl, obwohl nach dem ersten Wahlgang der SPD-Kandidat mit 48,9% sehr deutlich vor dem CDU-Bewerber (33,8%) lag. Da viele Wähler offenbar der Ansicht waren, dass die Wahl schon gelaufen sei, blieben sie zu Hause – folglich betrug die Wahlbeteiligung bei der Hannoveraner Stichwahl nur noch magere 38,2 Prozent (gegenüber 68,0 Prozent bei der Hauptwahl). Der SPD-Kandidat konnte seinen relativen Stimmenanteil zwar nochmals krätig ausbauen, musste in absoluten Zahlen allerdings einen Rückgang von 30.000 Stimmen (statt 131.905 Stimmen im ersten Wahlgang erhielt er nur noch 101.801 Stimmen) hinnehmen. Auch wenn in diesem Fall an der politischen Legitimation der Stichwahl nichts auszusetzen ist, so stellt sich dennoch die Frage, ob der Aufwand noch in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen gestanden hat („Stichwahlen – warum eigentlich?„, titelte z.B. die HAZ) und ob die rot-grüne Landesregierung nicht besser daran getan hätte, ein modernes Stichwahlverfahren wie die Integrierte Stichwahl einzuführen.

Wer nicht hören will, muss fühlen

Die CDU/FDP-Regierungskoalition in Niedersachsen, die anläßlich der Abschaffung der Stichwahl so eindrucksvoll ihre „Arroganz der Macht“ unter Beweis gestellt hat (vergl. die älteren Beiträge in diesem Blog), ist bei der Landtagswahl am 20. Januar 2013 abgewählt worden.

Knapp war es, äußerst knapp sogar. Hätte die CDU in Hildesheim nur 334 Erststimmen mehr erhalten, hätte es für die CDU ein Überhangmandat gegeben, welches (eine Besonderheit des niedersächsischen Landtagswahlrechts) nicht ausgeglichen worden wäre. Dann hätte es zumindest ein Patt gegeben, und David McAllister hätte in einer großen Koalition Ministerpräsident bleiben können. Dasselbe wäre passiert, wenn der Leihstimmen-Effekt noch ein klein wenig besser funktioniert hätte, sprich: Wenn neben jenen mehr als 100.000 CDU-Anhängern, die nach Schätzungen der Meinungsforschungsinstitute dieses Mal ihre Stimme an die FDP gegeben haben, 2.000 weitere CDU-Wähler diesen Weg gegangen wären – auch dann hätte es ein Überhangmandat und in der Folge ein Patt zwischen den Lagern gegeben.

Die Zahlenspiele kann man beliebig fortsetzen. Zum Beispiel: Wenn 1.399 SPD-Wähler statt dessen die FDP gewählt hätten, würde es heute sogar umgekehrte Mehrheiten im Landtag geben. Dasselbe wäre – pikanterweise – passiert, wenn 1986 die CDU-Regierung unter Ernst Albrecht nicht aus Machtkalkül den Wechsel vom Hare-Niemeyer-Auszählverfahren (welches tendenziell die kleinen Parteien begünstigt) auf das Auszählverfahren nach  D’Hondt (welches für große Parteien günstiger ist) durchgesetzt hätte. Würde man nämlich heute noch immer nach Hare-Niemeyer auszählen, wäre das letzte zu verteilende Mandat nicht an die SPD, sondern an die FDP gefallen, und die CDU/FDP-Koalition hätte weiterhin die Landesregierung gestellt. Man kann an diesen Fakten sehr schön sehen, welchen großen politischen Einfluss kleine Wahlrechtsdetails haben können.

Darüber hinaus hat die Niedersachsen-Wahl nachdrücklich gezeigt, wie dringend reformbedürftig das bisherige Wahlrecht ist, weil es falsche Anreize für taktisches Wählen setzt. Laut Umfragen stammten die Stimmen für die FDP zu 70 bis 80(!) Prozent von CDU-Wählern, die ihre Lieblingspartei indirekt unterstützen wollten, indem sie dem dringend benötigten Koalitionspartner zum Wiedereinzug in den Landtag verhelfen wollten. Vom Ausmaß dieser Wählerwanderung sind allerdings sogar die Demoskopen überrascht worden. Während die letzten Umfragewerte vor der Wahl zwischen 4,5 und 5 Prozent für die FDP voraussagten, waren es am Ende satte 9,9 Prozent.

Dabei ist jenen Wählern, die der FDP zu ihrem unverdienten Wahlerfolg verhalfen, noch nicht einmal ein Vorwurf zu machen, denn sie haben sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen völlig rational verhalten. Der Fehler liegt eindeutig im System. Ein Wahlsystem, bei dem sich aus den Wahlergebnissen nicht einmal mehr herauslesen lässt, welche Partei die Wähler in Wirklichkeit präferieren, ist eine Perversion demokratischer Grundprinzipien und steht der Perversion, welche durch das sogenannte Negative Stimmgewicht entsteht, in nichts nach. Sowohl beim Negativen Stimmgewicht wie auch bei der Leihstimmenkampagne regiert das Prinzip: „Ich schade meiner Lieblingspartei, indem ich sie wähle, und nütze meiner Lieblingspartei, indem ich sie nicht wähle“.

Die Rettung vor solchen Abartigkeiten liegt in präferenzbasierten Wahlsystemen, zu denen auch die Integrierte Stichwahl zählt. Hier nummerieren die Wähler gemäß ihrer Präferenzen die für sie wählbaren Parteien, so dass nicht nur allein die Erstpräferenzen gezählt werden, sondern im Bedarfsfall auch die nachrangigen Präferenzen berücksichtigt werden können. Dies wird in dem Moment wichtig, wo der komplette Verlust der Stimme droht, weil die Lieblingspartei an der Sperrklausel gescheitert ist oder der Lieblingskandidat es nicht in die Stichwahl geschafft hat. Für diesen Fall können die Wähler bereits bei der Stimmabgabe kenntlich machen, auf wen ihre Stimme im zweiten Wahlgang (der in Wirklichkeit ja nur eine Zweitauszählung ist) übertragen werden soll.

Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauern wird, bis diese überzeugende Lösung das erste Mal zum Einsatz kommt – sei es bei einer Wahl zum Deutschen Bundestag, bei einer Landtagswahl oder bei einer Bürgermeisterwahl.

Stichwahlen adé

Der niedersächsische Landtag hat heute mit den Stimmen von CDU und FDP die Stichwahl bei den Bürgermeisterwahlen abgeschafft. Begründet wurde dies mit der tendenziell niedrigeren Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, die in den Augen der Regierungsfraktionen zu einer geringeren demokratischen Legitimation führe. Einen konkreten Beweis dieser abenteuerlichen These blieben CDU und FDP jedoch schuldig. Herr Biallas, der den Antrag für die CDU-Fraktion einbrachte, behauptete, dass die Erfahrung zeigen würde, dass der Gewinner der Stichwahl „in den meisten Fällen deutlich weniger Stimmen als der Erstplatzierte der Direktwahl“ hätte. Diese Aussage ist mehr als unverständlich, weil bei den letzten Wahlen nachweislich das Gegenteil passiert ist.

Innenminister Uwe Schünemann verstieg sich gar zu der Erklärung, die Bürger selbst hätten es so entschieden, denn sie wären nicht zur Stichwahl gegangen und hätten quasi mit den Füßen dagegen abgestimmt. In Wahrheit können Wähler die vielfältigsten Motive haben, nicht an der Stichwahl teilzunehmen – z.B. weil sie keinen Kandidaten für wählbar halten, den Wahlausgang als sehr eindeutig einschätzen oder nicht gut zu Fuß sind (bei Stichwahlen ist nämlich keine Briefwahl möglich). Eine Bürgerbefragung welcher Form auch immer zum Thema Stichwahl hat es hingegen nie gegeben – was Herrn Biallas aber nicht hinderte, dennoch ins Blaue hinein zu behaupten, die Mehrheit der Bürger würde so denken wie seine Fraktion.

Die Opposition kritisierte, dass das Gesetz im Schweinsgalopp und ohne ausreichende Beratung durch das Parlament gepeitscht worden wäre und beklagte neben dem Abbau demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten auch den Zwang zum taktischen Wählen und die Gefahr von Vorab-Kungeleien, was beides zu einer Verfälschung des Wählerwillens führen würde. SPD, Grüne und Linke warfen den Regierungsparteien vor, nur die eigenen Interessen im Blick zu haben, und kündigten an, bei einem Regierungswechsel 2013 die Abschaffung der Stichwahlen wieder rückgängig zu machen. Ein letzter Versuch der Oppositionsfraktionen, mittels Geschäftsordnungsantrag eine Rücküberweisung in die Ausschüsse zu erreichen mit dem Ziel, dort das Alternativkonzept der Integrierten Stichwahl zu prüfen, scheiterten an der Entschlossenheit von CDU/FDP, hier und heute die Gesetzesänderung in trockene Tücher zu bringen.

Kurz vor der Landtagssitzung hatte Mehr Demokratie e.V. in der Nähe des Landtags eine kleine Demonstration abgehalten. Die Vertreter von CDU und FDP waren eingeladen worden, die von Mehr Demokratie gesammelten 1.800 Unterschriften gegen die Stichwahl-Abschaffung plus dieselbe Anzahl von Reisszwecken persönlich entgegenzunehmen. Zu diesem nicht leichten Job hatten sich Bernd-Carsten Hiebing von der CDU und Jan-Christoph Oetjen von der FDP eingefunden. Beide versuchten vor den anwesenden Medienvertretern nochmals die Abschaffung der Stichwahlen zu verteidigen, wirkten aber in dem sich anschließenden Streitgespräch – an dem sich u.a. Olaf Lies (SPD) und Tim Weber (Mehr Demokratie) beteiligten – ziemlich still und verlegen. Auch auf den von mir geäußerten Einwand hin, dass man die ins Feld geführten Ziele mindestens ebensogut mit der Integrierten Stichwahl hätte erreichen können, schwiegen sie hilflos bzw. verteidigten sich damit, dass diese Alternative ja erst jetzt bekannt geworden sei. Dies ist jedoch nicht zutreffend, weil beide Fraktionen spätestens bei der Anhörung im August eine solche Lösung präsentiert bekamen; man wollte nur offenbar nicht genauer hinhören.

Hier ein paar Fotos von der heutigen Aktion:

Stichwahlen beibehalten

Stichwahlen beibehalten

Unsere Forderung: Stichwahlen beibehalten!

Übergabe der Unterschriften

Der Karton mit den 1.800 Unterschriften wird übergeben an Bernd-Carsten Hiebing von der CDU (Bildmitte) und Jan-Christoph Oetjen von der FDP (links im Bild). Rechts: Tim Weber von Mehr Demokratie e.V.

Vor dem Landtag in Hannover

Diskussion

Björn Benken (Wahlreform.de), Olaf Lies (SPD-Landesvorsitzender), Bernd-Carsten Hiebing (CDU). Foto: Dirk Schuhmacher (Mehr Demokratie e.V.)

Noch sechs Tage

Gerade ist die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche des Landtages veröffentlicht worden, und nun ist es amtlich: Am 9. November wollen CDU und FDP die Stichwahlen in Niedersachsen abschaffen. Die Chance, dass dieses Vorhaben noch in letzter Sekunde kippt, dürfte noch nicht einmal im Promillebereich liegen. Beide Fraktionen scheinen fest gewillt zu sein, diese Gesetzesänderung zum eigenen Nutzen durchzudrücken. Um nichts unversucht zu lassen, haben wir letzte Woche noch mehrere hundert Briefe und E-Mails an Geschäftsstellen, Amtsträger und Mandatsträger der CDU verschickt. Dass bisher nur ein Prozent der Angeschriebenen überhaupt geantwortet hat, spricht sicher Bände.

Warum jedoch auch die FDP so brav auf die Linie der CDU eingeschwenkt ist, erschliesst sich erst auf den zweiten Blick. Die ausgehandelten Zugeständnisse (z.B. die Schaffung größerer Wahlkreise) sind wohl eher nebensächlich. Vielmehr scheint die FDP unter dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Bode vor allem das Ziel zu verfolgen, zukünftig bei jeder Bürgermeisterwahl in jedem Wahlgebiet ein Druckmittel gegen die CDU in der Hand zu halten, um – gegen entsprechende Gegenleistungen – keine eigenen Kandidaten mehr aufzustellen und die Erfolgsaussichten der CDU damit deutlich zu erhöhen. Wenn es dazu kommt, können sich diejenigen, die stets auf die Gefahr undemokratischer Wahlabsprachen nach Abschaffung der Stichwahlen hingewiesen haben, leider bestätigt fühlen.

Erfreulicher gestalten sich zur Zeit die Kontakte zu den Oppositionsfraktionen. So hatte ich z.B. am vergangenen Samstag Gelegenheit, ein längeres Gespräch mit dem SPD-Landesvorsitzenden Olaf Lies zu führen, der sich gegenüber dem Modell einer Integrierten Stichwahl prinzipiell aufgeschlossen zeigte. Auch sind einige grüne Landtagsabgeordnete von der Integrierten Stichwahl so angetan, dass sie diese in ihr zukünftiges Wahlprogramm mit aufnehmen möchten. Schön zu hören!

In NRW tut sich was

Eine gute Nachricht kommt aus Nordrhein-Westfalen: Da haben SPD und Grüne bei den Koalitionsverhandlungen im Sommer das Konzept einer Integrierten Stichwahl immerhin schon mal diskutiert. Noch überwiegen dort allerdings die Bedenken. Weil man bei Rot-Grün überlegt, die Ratswahlen und Bürgermeisterwahlen zukünftig auf einen gemeinsamen Termin zu legen (was in kreisangehörigen Gemeinden dazu führen würde, dass am Wahltag vier Stimmzettel auszufüllen sind), möchte man die Wähler nicht noch mit einer weiteren „Komplikation“ überfordern.

Abhilfe wäre jedoch ganz einfach. Um die Wähler nicht durcheinanderzubringen, bei welcher Wahl sie Ziffern und bei welcher Wahl sie Kreuze nehmen sollen bzw. dürfen, würde eine winzige Änderung im Kommunalwahlgesetz ausreichen: Man müsste nur festlegen, dass bei beiden Wahlen beide Methoden zulässig sind – schon wäre das Problem aus der Welt geschafft. Im Modell der Integrierten Stichwahl ist diese Dualität ohnehin schon vorhanden. Jetzt müßte man nur zusätzlich festlegen, dass auch bei Ratswahlen statt eines Kreuzes die Ziffer „1“ zulässig ist und dass eine solche Kennzeichnung des Stimmzettels bei der Auszählung dieselbe Wirkung entfaltet. Abschließend müsste im Gesetz oder in der Wahlordnung noch erwähnt werden, dass auch Ziffern höher als 1 auf dem Stimmzettel erlaubt sind in dem Sinne, dass sie ihn nicht ungültig machen, wenngleich diese höheren Ziffern natürlich bei der Auszählung ignoriert werden müssten.

Auch die eventuelle Befürchtung, dass es bei Einführung einer Integrierten Stichwahl eine zu große Anzahl unwirksamer Stimmen im zweiten Wahlgang geben könnte, relativiert sich bei näherer Betrachtung. Unwirksame Stimmen im zweiten Wahlgang wird es insbesondere immer dann geben, wenn Wähler im Hauptwahlgang ein Kreuz für einen Bürgermeisterkandidaten abgeben, der es nicht bis in die Stichwahl schafft. Laut Wahlgesetz würde die „Kreuz“-Stimme dann auch in der Stichwahl gelten – doch da der angekreuzte Kandidat hier nicht mehr vertreten ist, könnte die Stimme keine Wirkung mehr entfalten. Von außen ließe sich nicht feststellen, ob hier möglicherweise aus Unkenntnis des Wahlsystems eine Stichwahl-Stimme verschenkt wurde oder ob es sich um eine bewußte Entscheidung des Wählers handelt, der keinen anderen Kandidaten für wählbar hielt. Letztlich würde sich hier der bekannte Effekt wiederspiegeln, dass die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl fast immer viel niedriger liegt als bei der Hauptwahl. Das, was der  Nichtwählerzuwachs im Falle der traditionellen Stichwahl ist, sind die unwirksamen Stimmen bei der Integrierten Stichwahl.

Wild entschlossen

CDU und FDP in Niedersachsen scheinen wild entschlossen zu sein, die Stichwahlen in Niedersachsen schon innerhalb der nächsten Wochen abzuschaffen. Bereits im April war von der Landesregierung ein entsprechender Gesetzesentwurf eingebracht worden, der auf der Landtagssitzung im April erstmals diskutiert und im Juni in erster Lesung beraten wurde. Die dürftige, nachlässig formulierte Begründung für die Abschaffung der Stichwahlen kündigte bereits an, wie wenig man sich in dieser Frage um sachliche Argumente scheren wollte. Dies zeigte sich auch bei einer öffentlichen Anhörung am 25. August im Landtag, als die Regierungsfraktionen sich selbst durch die harsche Kritik des Niedersächsischen Städetages und des Niedersächsischen Landkreistages nicht aus der Ruhe bringen ließen. Und als zum Schluss der Vertreter von Mehr Demokratie e.V. sein wohlfundiertes Statement abgab, waren von den neun Ausschußmitgliedern der Regierungsparteien nur noch drei körperlich und geistig anwesend.

In der Folge bekräftigte die CDU ihre starre Haltung durch einen Parteitagsbeschluss. Und nachdem sich die FDP schon frühzeitig ihre Zustimmung zur Stichwahl-Abschaffung durch die Zusicherung von Gegenleistungen hatte abkaufen lassen, haben beide Fraktionen diese gemeinsame Linie vor drei Tagen endgültig festgezurrt. Offensichtlich scheint es der CDU völlig egal zu sein, dass die Abschaffung der Stichwahlen ein durchsichtiges Manöver ist und einzig und allein aus Gründen des Machterhalts und auf Kosten der kleinen Parteien bzw. Einzelbewerber geschieht.

Ich finde die Art und Weise, wie hier demokratische Freiheiten abgebaut werden sollen, bestürzend und bin nun ebenfalls wild entschlossen, mich dagegen zu wehren. Andererseits bin ich natürlich Realist genug und weiss, dass man allein oder zu zweit oder dritt wahrscheinlich wenig ausrichten kann. Doch wenn es mindestens zehn, besser noch 100, vielleicht sogar 1.000 Menschen gibt, die ebenfalls bereit sind, entschlossen für demokratische Errungenschaften zu kämpfen… dann könnte es klappen! Die Tatsache, dass bei Mehr Demokratie innerhalb eines einzigen Tages mehr als 250 Menschen den Aufruf zur Beibehaltung der Stichwahlen unterschrieben haben, ist ein mutmachendes Zeichen.

Los geht’s!

Das Stichwahlen-Blog ergänzt ab sofort unsere Website www.stichwahlen.de. Wir hoffen, hier in den nächsten Jahren eine Entwicklung hin zu modernen Wahlverfahren dokumentieren zu können.

Im aktuellen Streit um die Frage „Stichwahl ja oder nein?“ setzen wir uns für eine dritte Option ein: die Integration der Stichwahl in den ersten Wahlgang. Die Wähler würden bereits im Hauptwahlgang festlegen, welcher Kandidat im Falle einer Stichwahl ihre Stimme erhalten soll, indem sie auf dem Stimmzettel Ziffern statt Kreuze ver­geben. Der Wählerwille würde auf diese Weise exakt wiedergegeben werden, und die Nachteile einer traditionellen Stich­wahl (hohe Kosten für die Ge­mein­den und teilweise niedrige Wahl­beteiligungen) könnten ver­mieden werden.

Über eine rege Diskussion und viele Kommentare zu unseren Blogbeiträgen würden wir uns freuen. Nur wenn viele Menschen über das Thema Stichwahl sprechen und sich Gedanken machen, wie unsere Demokratie noch besser und effizienter funktionieren kann, wird dieses Projekt am Ende Erfolg haben.