Stichwahlen adé

Der niedersächsische Landtag hat heute mit den Stimmen von CDU und FDP die Stichwahl bei den Bürgermeisterwahlen abgeschafft. Begründet wurde dies mit der tendenziell niedrigeren Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, die in den Augen der Regierungsfraktionen zu einer geringeren demokratischen Legitimation führe. Einen konkreten Beweis dieser abenteuerlichen These blieben CDU und FDP jedoch schuldig. Herr Biallas, der den Antrag für die CDU-Fraktion einbrachte, behauptete, dass die Erfahrung zeigen würde, dass der Gewinner der Stichwahl „in den meisten Fällen deutlich weniger Stimmen als der Erstplatzierte der Direktwahl“ hätte. Diese Aussage ist mehr als unverständlich, weil bei den letzten Wahlen nachweislich das Gegenteil passiert ist.

Innenminister Uwe Schünemann verstieg sich gar zu der Erklärung, die Bürger selbst hätten es so entschieden, denn sie wären nicht zur Stichwahl gegangen und hätten quasi mit den Füßen dagegen abgestimmt. In Wahrheit können Wähler die vielfältigsten Motive haben, nicht an der Stichwahl teilzunehmen – z.B. weil sie keinen Kandidaten für wählbar halten, den Wahlausgang als sehr eindeutig einschätzen oder nicht gut zu Fuß sind (bei Stichwahlen ist nämlich keine Briefwahl möglich). Eine Bürgerbefragung welcher Form auch immer zum Thema Stichwahl hat es hingegen nie gegeben – was Herrn Biallas aber nicht hinderte, dennoch ins Blaue hinein zu behaupten, die Mehrheit der Bürger würde so denken wie seine Fraktion.

Die Opposition kritisierte, dass das Gesetz im Schweinsgalopp und ohne ausreichende Beratung durch das Parlament gepeitscht worden wäre und beklagte neben dem Abbau demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten auch den Zwang zum taktischen Wählen und die Gefahr von Vorab-Kungeleien, was beides zu einer Verfälschung des Wählerwillens führen würde. SPD, Grüne und Linke warfen den Regierungsparteien vor, nur die eigenen Interessen im Blick zu haben, und kündigten an, bei einem Regierungswechsel 2013 die Abschaffung der Stichwahlen wieder rückgängig zu machen. Ein letzter Versuch der Oppositionsfraktionen, mittels Geschäftsordnungsantrag eine Rücküberweisung in die Ausschüsse zu erreichen mit dem Ziel, dort das Alternativkonzept der Integrierten Stichwahl zu prüfen, scheiterten an der Entschlossenheit von CDU/FDP, hier und heute die Gesetzesänderung in trockene Tücher zu bringen.

Kurz vor der Landtagssitzung hatte Mehr Demokratie e.V. in der Nähe des Landtags eine kleine Demonstration abgehalten. Die Vertreter von CDU und FDP waren eingeladen worden, die von Mehr Demokratie gesammelten 1.800 Unterschriften gegen die Stichwahl-Abschaffung plus dieselbe Anzahl von Reisszwecken persönlich entgegenzunehmen. Zu diesem nicht leichten Job hatten sich Bernd-Carsten Hiebing von der CDU und Jan-Christoph Oetjen von der FDP eingefunden. Beide versuchten vor den anwesenden Medienvertretern nochmals die Abschaffung der Stichwahlen zu verteidigen, wirkten aber in dem sich anschließenden Streitgespräch – an dem sich u.a. Olaf Lies (SPD) und Tim Weber (Mehr Demokratie) beteiligten – ziemlich still und verlegen. Auch auf den von mir geäußerten Einwand hin, dass man die ins Feld geführten Ziele mindestens ebensogut mit der Integrierten Stichwahl hätte erreichen können, schwiegen sie hilflos bzw. verteidigten sich damit, dass diese Alternative ja erst jetzt bekannt geworden sei. Dies ist jedoch nicht zutreffend, weil beide Fraktionen spätestens bei der Anhörung im August eine solche Lösung präsentiert bekamen; man wollte nur offenbar nicht genauer hinhören.

Hier ein paar Fotos von der heutigen Aktion:

Stichwahlen beibehalten

Stichwahlen beibehalten

Unsere Forderung: Stichwahlen beibehalten!

Übergabe der Unterschriften

Der Karton mit den 1.800 Unterschriften wird übergeben an Bernd-Carsten Hiebing von der CDU (Bildmitte) und Jan-Christoph Oetjen von der FDP (links im Bild). Rechts: Tim Weber von Mehr Demokratie e.V.

Vor dem Landtag in Hannover

Diskussion

Björn Benken (Wahlreform.de), Olaf Lies (SPD-Landesvorsitzender), Bernd-Carsten Hiebing (CDU). Foto: Dirk Schuhmacher (Mehr Demokratie e.V.)

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3 Antworten zu “Stichwahlen adé

  1. Sehr schade, dass die CDU/FDP diesen Beschluss gefasst haben. Früher kämpfte die FDP mal für „mehr“ Demokratie, nichtmal das kann sie mehr…
    Aber die Gründe, dass die CDU diese Demokratie-Einschränkung beschloss sind für mich klar: ihre Vertreter brauchen sich keiner Stichwahl zu stellen…
    Entäuschend! Ursula Petersen

  2. Schämen sollten sich vor allem die MedienvertreterInnen. Wenn das Thema auf allen niedersächsischen Tageszeitungen auf Seite 1 mit knackigen Kommentaren erschienen oder Diskussionsveranstaltungen organisiert worden wären, wer weiß, ob dann nicht viel mehr ihre Protestunterschrift bei „Mehr Demokratie“ geleistet hätten. Aber auch die überregionalen Zeitungen haben nicht einen Artikel zu Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen gebracht, ein absolutes Amutszeugnis!

    In Zeiten von Stuttgart 21 solche Gesetze zu verabschieden zeigt, dass einige PolitikerInnen unter völligen Realitätsverlust zu leiden scheinen.

  3. Ich verstehe es ehrlich gesagt auch nicht, warum sich die Zeitungen in ihrer Berichterstattung dermaßen zurückgehalten haben. Denken die Medienvertreter, dass solche Themen zu schwer verständlich für ihr Publikum sind? Oder haben sie (auch diese Frage muss erlaubt sein) selber Schwierigkeiten, die Hintergründe zu verstehen? Immerhin haben hier zwei Parteien einfach mal so die demokratischen Spielregeln zu ihren Gunsten geändert, ohne hierfür eine einzige stichfeste Begründung liefern zu können; denn alle von ihnen genannten Ziele hätten genausogut mit der Integrierten Stichwahl erreicht werden können.

    Doch letztlich ist die Spekulation darüber müßig, ob hier unkritische Medien oder unpolitische Bürger (oder unflexible Verfassungsgerichte) eine Mitschuld daran tragen, dass in Niedersachsen ein Stückchen Demokratie verlorengegangen ist. Krempeln wir lieber die Ärmel hoch und sorgen dafür, dass das Verlorene im Jahr 2013 wiederkehrt – im modernen Gewand einer Integrierten Stichwahl.

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